Free Radio! Lasst Menschen sprechen.

Lernen von einem Audio-Adventskalender im Internet (und anderen Erzählformaten).

Seit Anfang Dezember höre ich täglich den Audio-Adventskalender von Juiced.de, einem Internetmagazin. Jedes Mal erzählen darin wildfremde Menschen Geschichten aus ihrem Leben. Oder genauer: Jedes Mal lässt sich Markus Bender, ein junger Radiomacher, darin Geschichten von wildfremden Menschen erzählen. Denn er ist es, der die Leute anquatscht. In der U-Bahn, auf dem Marktplatz, in der Fußgängerzone. Einfach so.

Was mich fasziniert: Fast immer erzählen Markus‘ Zufallspartner Geschichten, denen man zuhören will. Sie reden über ihre Ansichten und Erfahrungen. Oft sehr persönlich und überraschend intim. Dabei dauern die Gespräche meist nur wenige Minuten. Dennoch hat man den Eindruck, Einblick zu bekommen in anderer Leute Leben. Und man lernt: Die meisten Menschen haben mehr zu sagen als man denkt.

Mal schildert ein Physikstudent seine Utopie von einer besseren Welt, die jeden kleidet, jeden füttert, jeden versorgt. Mal erzählt eine junge Erzieherin, wie sehr sie ihr soziales Jahr verändert hat.  Im Grund nichts spektakuläres. Dennoch:

Die Gespräche haben eine überraschend aufgeschlossene Freundlichkeit, die ansteckend ist. Das wiederum liegt auch an Markus. Dem gelingt es nämlich, die Gespräche mit einem gewinnend ernsthaften Interesse zu führen wie ich es mir viel häufiger von Interviewern wünschen würde. Und deshalb habe ich ihn gefragt: Wie macht er das? Und warum eigentlich? Hier seine Antwort:

„Puh, ja ach, ich weiß nicht“, würde Tim mit seinen prägnant kurzen Sätzen sagen. Aufgefallen ist mir der Gute-Laune-Typ, weil ich beim Vorbeilaufen ein Gesprächsschnipsel zwischen ihm und seinen Kumpels aufgegabelt habe: „Spring Break in Mexiko“ ist sein Ziel. Bei Theresa habe ich mir die Frage gestellt, wieso sie mit vollgepackter Tasche und vollem digitalen Equipment in der Stuttgarter Innenstadt sitzt – bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Es gibt viele wie Tim und Theresa da draußen: Die Lebenswirklichkeit unterschiedlicher Leute,  die ich im Grunde gar nicht kenne, finde ich unglaublich spannend: was beschäftigt sie, worin sind sie Experte und was sind ihre Träume? Wenn mir jemand auffällt oder interessant vorkommt, quatsche ich die Person an und versuche völlig vorurteilsfrei Einblicke in ihr Leben zu bekommen.

Die Herausforderung dabei: innerhalb kürzester Zeit einen interessanten Aspekte von der interviewten Person zu entdecken. Dabei hilft mir – nicht nur als Eisbrecher – eine in Geschenkpapier verpackte „SH!FT“-Ausgabe mit dem Titel „Die unbequeme Wahrheit“. Das Magazin ist das einzige feste Element im Gespräch auf das ich irgendwann zu sprechen komme. Wenn das Gespräch bis dahin oberflächlich geblieben ist, kann es mit dem Magazin an Tiefe gewinnen: z.B. mit der Frage nach der persönlichen unbequemen Wahrheit.

Nicht immer gelingt das Gespräch, aber die meisten der jungen Zielgruppe (20-35) sind offen für die spontane Aktion. Oft unterhalten wir uns länger als geplant. Ursprünglich war das auf maximal drei bis fünf Minuten festgelegt. Das Ziel habe ich nicht eingehalten. In der derzeitigen Phase versuche ich so wenig wie möglich zu schneiden und lasse auch längere Pausen zu. Eine feste Gesprächsstruktur wie zu Beginn habe ich über den Haufen geworfen. Mittlerweile bin ich themenoffen, im Mittelpunkt bleibt aber immer das Magazin auf das ich einmal zu sprechen komme.

Was hat das mit Radio zu tun?

Mit dem Audio-Adventskalender versuchen wir im „Kleinen“ herauszufinden, wie und unter welchen Bedingungen Audio-Content im Netz ankommt. Auf der anderen Seite wollen wir ein neues Format ausprobieren und damit experimentieren. Gerade für mich als Radiomacher ist das spannend: Der Audio-Adventskalender ist ein Format, das in der Art so sicherlich erst mal nicht im Radio laufen würde: viel zu lang und möglicherweise zu unspezifisch – aber ich glaube, dass es Potential hat.

Markus-BenderÜber den Autor: Markus Bender ist Jahrgang 1985 und im Siegerland aufgewachsen. Nach einer Berufsausbildung sammelte er mehrere Jahre lang Berufserfahrung in der IT-Branche und hat unter anderem in Irland gelebt und gearbeitet.Weil ihn Radio (und Fernsehen) schon immer begeistert haben, macht er seit 2009 was mit Medien. Am liebsten ist er dabei als Moderator und Reporter unterwegs. Gelegentlich bloggt er.

Wir können damit unterschiedliche Lebenswirklichkeiten der Hörer zusammen bringen, ohne zu inszenieren oder geplant vorzuselektieren: Durch die willkürliche Auswahl von Leuten kommen kontroverse Situationen und Themen zustanden. Davon regen einige zur Diskussion an, andere sind einfach nur unterhaltsam oder tiefgründig. Irgendwie ist es ein bisschen wie bei einer Talk-Sendung – nur eben auf der Straße. Und dass ich Themen suchen muss statt serviert zu bekommen. Denn ich führe kein inhaltliches Vorgespräch.

Wir planen in der kommenden (letzten) Woche die Hörer zum Mitbestimmen zu animieren: Was könnte zum Beispiel eine Einstiegsfrage sein? An welchem Ort sollen wir uns die Leute aussuchen? Die Möglichkeiten zum interagieren sind vielfältig. Mit etwas Kreativität lässt sich aus all dem auch ein ansprechendes Format fürs Radio entwickeln. Abseits der Norm und durchaus interessant für Werbekunden.

Lust auf Straßen-Talk?

Noch ist das Ganze in der Experimentierphase und wir lassen bei jeder neuen Folge neue Erkenntnisse mit einfließen. Das Feedback ist bisher positiv. Das sind die bisherigen Erfahrungen zur Halbzeit:

Definiere ein wiederkehrendes Element. In meinem Fall ist es ein neues Magazin für junge Menschen mit Mut zur Veränderung. Auf das Element komme ich mindestens einmal im Gespräch zu sprechen und hilft dabei dem Gespräch Tiefe zu geben.

  • Verpacke ggf. das Element. Das ist ein guter Gesprächseinstieg und hilft dabei eine unterhaltsame Atmosphäre zwischen dir und deinem Gegenüber aufzubauen.
  • Lass deinem Gegenüber Freiheit. Anders als bei manchen Radio-Straßenumfragen hetze ich nicht der Antwort hinterher. Nur wenn mein Gegenüber wirkliches Interesse zeigt, steige ich ins Gespräch ein. Sonst breche ich ab. Die Leute sollen ja auch Bock darauf haben und sich darauf einlassen können.
  • Lass laufen! Ich folge keinem festen Gesprächsmuster mehr und lasse das Gespräch laufen. Ich schneide nur noch, wenn sich etwas nicht trägt oder unpassend erscheint. Damit bleiben wir mittendrin im Geschehen.
  • Weniger ist mehr: Komm zum Ende, sobald dein Gegenüber dir eine spannende Geschichte erzählt hat und du glaubst dazu alles Spannende erfahren zu haben. Denn ansonsten hört das gar nicht auf. Schließlich hat (fast) jeder mehrere spannende Geschichten zu erzählen, die man aber leider unmöglich alle veröffentlichen kann.
  • Hab Spaß am Gespräch! Die besten Gespräche sind die, bei denen ich selbst von vorne herein Spaß habe, mich auf die Person ganz einzulassen.


Übrigens: Erzählen ist im Internet total in und reine Audios sind grade da spannend, wo es persönlich wird und Menschen unverstellt über ihre Leben reden sollen und wollen. Meine Hörtipps:

  • Squirrel Stories von Jamie Courville: Hier dürfen Menschen über Dinge sprechen, die sonst nur selten offen angesprochen werden. Zur Zeit geht es um Erfahrungen und Erlebnisse rund um die Krankheit Krebs.
  • Storycorps: Ein non-kommerzielles Projekt in den USA, das seit zehn Jahren amerikanische Lebensgeschichten sammelt – erzählt von den Protagonisten selbst. Das Ergebnis: 45.000 Audios, die einen durchs Schlüsselloch hören lassen und vermitteln, was Menschen bewegt, prägt, beschäftigt.
  • The Moth: Ein non-kommerzielles Projekt in den USA, das Geschichten mitten aus dem Leben erzählen lässt. Seit 1997 hat es tausende Menschen als Erzähler auf die Bühne, ins Netz und auch ins Radio gebracht.
  • Cowbird: Eine Internetplattform, die menschliche Erfahrungen sammelt – als Miniaturen. Meist ein Bild mit einem kleinen Text oder kurzem Audio.

Wenn Ihr noch andere Audio-Erzähl-Plattformen kennt, lasst es mich wissen.

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