Lernen von der amerikanischen Sendung “Radiolab“
Teil 2: Geschichten erzählen.
Von Tom Leonhardt
Im Deutschen denken viele bei dem Wort „Storytelling“ immer noch an Geschichten vorm Lagerfeuer.
In einigen Kreisen gilt das Wort – neben „Authentizität“ – als das nächste große Ding. Jad Abumrad und Robert Krulwich haben für Radiolab eine ganz besondere Art und Weise des Storytellings entwickelt, die ich in diesem Beitrag gerne etwas näher beleuchten möchte.
Ein typischer gebauter Beitrag besteht bei uns in der Regel aus Sprecher-Texten und O-Tönen. Die können wir meist ganz gut auseinander halten: Sprecher-Texte entwickeln die Szenerie, erörtern, konkretisieren und erklären O-Töne. (Das mag jetzt eine hoffnungslose Vereinfachung sein, aber hey …) O-Töne gelten als Beleg, wirklich mit den Betroffenen, Interviewpartnern, Experten etc. gesprochen zu haben. Ein guter Beitrag wechselt flüssig zwischen Sprecher-Text und O-Ton-Aufnahmen.
Als ich für meine Abschlussarbeit über die gängigen Konventionen im deutschen Radio recherchiert habe, bin ich auch auf den Leitfaden von Margarete Bloom-Schinnerl gestoßen. An einer Stelle schreibt sie:
Gelegentlich hört man, wie im Originalton der unvollständige Satz des Sprechers grammatikalisch vollendet wird. Auf diese Version greift man zurück, weil ein Satz im Originalton nicht vollständig ist (…) Diese Form des Übergangs zwischen Autorentext und Originalton sollte jedoch eine Ausnahme bleiben. Stilistisch ist sie eine Notlösung.
Es geht also darum, dass man Sprecher-Texte und O-Töne nur im Ausnahmefall ineinander übergehen lassen sollte. Ein zu flüssiger Wechsel wäre nicht „gut“.
Ob die Regel für die deutsche Radiolandschaft noch aktuell ist, sei erstmal dahin gestellt. Trotzdem würde ich schon behaupten, dass viele Radiobeiträge bei uns relativ klassisch geschnitten sind. Auf eine O-Ton-Passage folgt ein Sprecher-Text und umgekehrt – ab und zu passiert es auch mal, „dass der Sprecher einen Satz anfängt und ein Interviewpartner den Satz beendet.“
Bei Radiolab wird diese Trennung zwischen Autorentexten und O-Tönen aufgehoben. Anstatt sauber zwischen Journalisten und Gästen zu unterscheiden, werden die verschiedenen Sprecher eigentlich nur dazu genutzt, eine Geschichte zu erzählen. Es geht also eigentlich weniger darum, wer etwas erzählt, sondern um den Inhalt. Die Story steht im Vordergrund.
Hier ein Beispiel aus „The Bad Show“, in der Benjamin Walker über das ziemlich legendäre Milgram-Experiment berichtet.
In diesem Abschnitt stellen Benjamin Walker (BW) und Psychologie-Professor Alex Haslam (AH) die verschiedenen Variationen des Experiments vor und zeigen, dass je nach Umstand die Versuchspersonen anders auf die Situation und die Aufforderungen, den anderen Teilnehmer mit Elektroschocks zu „bestrafen“, reagieren. (Das Transkript beginnt bei 15.43 – aber eigentlich lohnt es sich schon, mindestens ab 15.00 zu hören!)
AH: okay
BW: here’s another one.
AH: this variant
BW: experiment 17
AH: there’s you and this two other participants
BW: both actors
AH: if those two participants refuse to go on
BW: like saying like i don’t wanna kill a guy
AH: only ten percent under those circumstances go on. and in the final one
BW: experiment 15
AH: of course normally you just have one experimenter who’s giving you these instructions
BW: but if you put two experimenters in the room, and…
AH: they start disagreeing with each other and this this one you get ZERO percent going all the way
Die ganze Passage dauert knapp 30 Sekunden und besteht aus zwölf hörbaren Schnitten. Das bedeutet, dass durchschnittlich alle 2,5 Sekunden geschnitten wird. Diese unglaublich hohe Schnittfrequenz sorgt dafür, dass die beiden Sprecher sich quasi ununterbrochen abwechseln und sich beim Hörer keine Ruhe einstellen kann.
In vielen deutschen Radiohandbüchern würde man das verurteilen, weil es „zu hektisch“ wirke: Der Hörer könne sich auf keinen Sprecher einstellen – hätte er sich an die eine Stimme gewöhnt, wäre schön wieder der andere Sprecher zu hören. Trotzdem scheint, zumindest bei mir, die Geschichte sehr gut zu funktionieren. Es geht eben nicht um den einzelnen Sprecher, der hier die Gelegenheit bekommt, sich und sein Anliegen zu präsentieren; stattdessen steht die Geschichte, also in dem Fall die Variationen des Experiments, im Vordergrund. Wer sie erzählt, ist zweitrangig.
Ok – das Beispiel könnten wir unter Umständen, mit ein paar Schnitten weniger wahrscheinlich, auch im deutschen Radio so hören: Der Wechsel zwischen zwei Sprechern, die ein und die selbe Geschichte erzählen, ist jetzt nicht direkt untypisch. Allerdings beschränken sich Jad und Robert nicht nur darauf, diesen rapiden Wechsel zwischen zwei Personen stattfinden zu lassen – es geht auch beispielsweise in einer Gruppe aus vier Personen, wie wir im nächsten Beispiel sehen werden.
Das Transkript stammt aus der Folge „Talking to machines“.
Wie der Name schon verrät, geht es um Momente, in denen Menschen und Maschinen miteinander kommunizieren und zu welchen Problemen das führen kann. In diesem Ausschnitt erklären Jad (JA), Robert (RK), Carl Zimmer (CZ) und Sherry Turkle (ST) die Funktionsweise eines bestimmten Therapieverfahrens, für das Joseph Weizenbaum ein Programm geschrieben hatte. (Mein Transkript fängt bei 9.21 an)
ST: so if you say you know i
BC: i’m feeling depressed
ST: the therapist says
BC: i’m sorry to hear you’re feeling depressed
ST: tell me more
BC: uhm, joseph weizenbaum decides, you know i think that’s an easy enough type of conversation that i can program that into my computer
RK: and so he writes up a simple little program
BC: just about a hundred lines of code
RK: which does sort of what your therapist does
BC: where it looks for a keyword in what you’re saying
RK: as in i’m feeling depressed
JA: keyword depressed
BC: latches on to it and then basically flips it back to you
RK: i’m sorry to hear that your feeling
JA: keyword
RK: depressed
BC: right
ST: uh it’s basically a program that inverts your words. it’s and it’s a it’s, so it’s a language game
Der Auszug hat eine Länge von etwa 35 Sekunden und beinhaltet 17 Schnitte – wir sind also noch ein Stückchen schneller geworden als im Vergleich zum oberen Beispiel.
An diesem Auszug wird gut deutlich, dass bei Radiolab nicht versucht wird, nur Satz-Stücke mit verschiedenen Sprechern zu verbinden, also dass Sprecher A den Satz beginnt und Sprecher B ihn beendet. Sie gehen noch ein Stück tiefer – auf die Wortebene innerhalb eines Satzes.
Jad Abumrad spricht wahrscheinlich auch deshalb lieber von einer Komposition und nicht einer „einfachen“ Montage. Text-Stücke werden wie Instrumente, die einzelne Noten spielen, aneinandergereiht und ergeben im Zusammenspiel ein Ganzes. Ich finde den Vergleich für die ganze Show – natürlich auch für die Musik und die Sounds – ziemlich gelungen.
Bietet es sich an, jeden Beitrag nun mit zig Schnitten zu bearbeiten und alle Passagen bis ins höchste zu stilisieren? Sicherlich nicht, aber gerade bei komplizierten Themen oder „schwierigen“ Interviewpartnern können wir uns für die Arbeit sicherlich den ein oder anderen Trick davon abschauen, um das Stück flüssiger und lockerer werden zu lassen. Gleichzeitig können komplexere Themen abwechslungsreicher gestaltet werden und wir so dafür sorgen, dass auch längere Stücke kurzweiliger wirken.
Über den Autor: Tom ist beim freien Radio groß geworden. Wollte aber laut Poesie-Album (zweite Klasse!) Chemiker, später dann unbedingt Zeitungsjournalist werden. Dann kam das unvermeidliche „Was mit Medien“-Studium. Heute macht er gerne Wissenschaftsbeiträge und twittert.
Kürzlich habe ich mir auch mal – ENDLICH – einige Folgen radiolab reingezogen – und bin von der anfänglichen Irritation zur Begeisterung übergegangen!
Der Artikel hier hat das sehr gut analysiert und auf den Punkt gebracht, wie das Ganze funktioniert.
Ich hatte beim Hören oft das Gefühl, die Macher haben so ein „Layer-Prinzip“ im Kopf. Ähnlich wie in der Bild- oder Audiobearbeitung mit verschiedenen Ebenen gearbeitet wird, bringen sie diese Ebenen auch zusammen, übereinander – physisch im Sinne der Tonspur und eben auch inhaltlich.
Bei der Sendung muss man aber auch sagen: So ein fantastisches Sounddesign – das sich ja nicht nur in der ungewöhnlichen Kombination des gesprochenen Worts erschöpft – da braucht man eben auch gute Techniker/Designer. Also ein bisschen back to the roots, statt noch mehr Einzelkämpfertum, oder?
Ich denke, Katharina hat recht. Ein so ausgefuchstes Sound-Design braucht Spezialisten. Nur wenige – wenn überhaupt – kriegen das als Einzelkämpfer hin. Das muss sich im deutschen Radio erst wieder rumsprechen.
Aber nicht nur das: Ich befürchte, dass es im Moment auch nur ganz wenige Radiomacher in Deutschland gibt, die diese Art des Sound-Designs, Erzählens und radiophonen Gestaltens KENNEN, also als ästhetisches Konzept.
Bei vielen deutschen Radiofeatures habe ich jedenfalls den Eindruck, dass man schon viel zu lange an althergebrachten Erzähl- und Präsentationsformen fest hält und kaum jemand Innovatives wagt. Das ist umso trauriger, weil es auf dem US-amerikanischen und kanadischen Markt Dutzende solcher grandios produzierter Reihen gibt. Zum Teil schon Jahre alt.
Eines meiner Lieblingsbeispiele: Die kanadische (und preisgekrönte) Serie „The Wire“ – eine Serie über die Auswirkungen der Elektrizität auf Musik. Es wird Zeit, sich davon was abzulauschen.