Wenn Radio begeistert.
Weitere Lieblingsstücke zum Lauschen, Lernen, Lust machen
Radio machen ist toll. Radio hören auch. Nicht immer, aber immer wieder. Dann, wenn einem Stücke ins Ohr fallen, die begeistern durch ihre Machart, ihre Intensität, ihre Wirkung.
Deshalb hier Teil 2 der Hörtipps für Anfänger, alte Hasen, Radiofreaks.
Dieses Mal ausgewählt und kommentiert von Tom Leonhardt, Laurence Thio und Sandra Müller.
- „Das Hacker Syndrom“ von Johannes Nichelmann (2013, WDR)
- „Die K – Szenen eines Drogenstrichs“ von Jens Jarisch (2005, RBB/DLF)
- Zeitzeichen zu Nostradamus‘ Geburtstag von Marko Rösseler (2013, WDR)
- „Zum 20. Todestag von Gustl Bayrhammer“ von Joseph Berlinger (2013, BR)
- „Das Hochwasser 2013 in der Sputnikzone“ von Jan Claus (2013, MDR)
- Betrunken am Steuer – Selbstversuch in der Bundesanstalt für Straßenwesen von Aeneas Rooch (2013, BR/NDR/SWR/WDR)
1. „Das Hacker Syndrom“
von Johannes Nichelmann (2013, WDR)
Länge: 52:53
Ein Feature über „Das Hacker Syndrom„? Also bitte! Ich interessiere mich gar nicht für Hacker und Computer-Nerds.
Aber weiß der Himmel warum: ich habe eben auf Play gedrückt und schon war ich gefangen. Denn der Einstieg allein ist so intensiv, der Sound so gut gewählt, der erste O-Ton so persönlich. Ich musste das zu Ende hören und habe es nicht bereut. Denn was der Netzaktivist Stephan Urbach erlebt hat, ist in diesem Feature höchst eindrücklich nachvertont: Er hat von Deutschland aus Demonstranten im Arabischen Frühling geholfen und wäre selbst fast daran zerbrochen.
Besonders faszinierend finde ich…
- den absolut fesselnden Geräusch-Musik-Einstieg, der inhaltlich noch nichts sagt, aber grandios die Stimmung des Stücks vorweg nimmt.
- dass der Sound das pefekte Bett für den ersten starken O-Ton liefert.
- den Mut stockende, langsame, zögerliche O-Töne mit Pausen, Rascheln, Denken wirken zu lassen.
- die Nähe, die das Stück schafft – ganz ohne Schilderungen, einfach durch Szenen.
- die sehr sensible Vertonung der Chat-Dialoge. Die technische Verfremdung deutet die Ferne der geschriebenen Sätze an, nimmt ihnen aber nichts von ihrer emotionalen Nähe.
2. „Die K – Szenen eines Drogenstrichs“
von Jens Jarisch (2005, RBB/DLF)
Länge: 44:22
Dieses Radiofeature schickt einen auf den Strich. Direkt auf „Die K“ – die Kurfürstenstraße in Berlin. Die Mädchen auf der K sind jung. Viele schaffen an, um sich die Drogen leisten können. Reporter Jens Jarisch ist mit seinem Mikrofon überall. Meist dichter als man glauben mag. Er ist bei den Prostituierten zu Hause. Er sitzt bei den Freiern im Auto und hört wie sie die Vorzüge der einen gegen den Preis der anderen abwägen. Wir hören den schnellen Sex im Auto. Irgendwann hat die ganze Straße einmal zum Hörer gesprochen und wer nicht schon einmal dort war, hat das Gefühl jetzt dort gewesen zu sein. Wer hören und fühlen kann, den wird dieses Stück mit voller Wucht treffen.
Das Faszinierende daran:
- Der Sog, den die Töne, die Geschichte und die Musik vom ersten Moment an erzeugen! Wer das anschaltet, kann nicht mehr abschalten. Jarisch hat unglaublich starke O-Töne zusammengetragen und wechselt sie virtuos mit Atmosphäre und Sprecher ab. Ich hatte nach dem Hören das Gefühl, alle Personen schon mal gesehen und nicht nur gehört zu haben.Der alte Radiospruch von Ira Glass gilt hier zu 100 Prozent: „Radio is your most visual medium“
- Der Erzähler! Dieses Feature hätte auch klassisch von einem Sprecher herunter erzählt werden können. Jarisch bricht damit.
Die Erzählerin beschreibt die Mädchen nicht nur, sie duzt sie dabei, spricht zu ihnen. Das schafft ganz unvermittelt Nähe. Dann wechselt sie wieder die Ansprechhaltung. Und ganz wichtig: Nie erklärt das Radiostück, es zeigt. Und gut ist. - Die Recherche! Die „Branche“ redet nicht gern. Diesen Zugang zu bekommen braucht viel Zeit und Vertrauen. Bei einigen Szenen in Jarischs Feature – beispielsweise beim Freier im Auto – hatte ich lange das Gefühl: Das ist doch Hörspiel! Ist es nicht. Aber ja: Jarisch selbst saß nicht mit im Auto, nur sein Aufmahmegerät. Es lag die ganze Zeit angeschaltet auf der Autoablage.
„Die K“ ist ein Feature, das mich auch beim Wieder-und-Wieder-und-Wieder-Hören anfasst. Es gehört zu meinen „Auf-ewig-Lieblingsstücken“. Denn es gibt – gerade weil man nur hört, nicht sieht – Einblicke in einen Teil des Lebens, der vielen von uns fremd ist. So nah kommt und geht einem nur Radio.
3. Zeitzeichen zu Nostradamus‘ Geburtstag
von Marko Rösseler (2013, WDR)
Länge: 14:27
Nostradamus kennt man. Das ist der, der angeblich wusste, was kommt. Interessiert hat mich der nie. Ich glaube nicht an Prophezeiungen. Und schon gar nicht an verschlüsselte aus dem Mittelalter. Warum also ein „Zeitzeichen“ anlässlich seines Geburtstags hören? Antwort: Weil es von Marko Rösseler ist! Denn dass das ein Hörgenuss wird, kann man ganz ohne Nostradamus weissagen. Es trifft einfach auf alle seine Zeitzeichen zu.
Besonders faszinierend finde ich in diesem Fall…
- den Geräusch und Sound-Einsatz – regelrecht filmmusikalisch, mit scharfen Akzenten und fließenden Stimmungsübergängen – perfekt gemischt. Meine Lieblingsstellen: Die Übergänge von unbeschwerten Lebensbeschreibungen zu bedrohlichen Lebenslagen mit Pest bzw. Tod und zurück. Und das musikalische Motiv, das sich bei Szenenwechseln jeweils wiederholt. Besser geht’s nicht.
- die Vielfalt der Stimmen, Sprecher, Klänge, Fernsehszenen, Interviewausschnitte, Lesungen,…
- die vielen klanglichen und inhaltlichen Überraschungsmomente: warum kommen da jetzt Archiv-O-Töne vom 11. September? Und läuft da im Hintergrund wirklich „Gangnam Style“? Warum, wird immer erst im Nachgang aufgelöst.
- die Leichtigkeit des Erzählertextes. Er bleibt erfreulich unaufdringlich und klar mit fein dosierter Ironie, die der Erzähler auch perfekt rüber bringt.
- der herrliche Zirkelschluss, der am Ende belegt, was anfangs schon behauptet wurde: dass Nostradamus bist heute „an der Zukunft schreibt“!
Wem diseser Still gefällt, der sollte auch viele andere Zeitzeichen von Marko Rösseler hören. Seine Stücke sind stets sehr kunstvoll komponiert, ohne künstlich zu klingen. Mit viel Tempo, Musik und Liebe zum kleinteiligen O-Ton-Einsatz. Der Mann weiß einfach, wie man’s macht. Um so bedauerlicher, dass er keine eigene Seite im Netz hat.
4. Zum 20. Todestag von Gustl Bayrhammer
von Joseph Berlinger (2013, BR)
Länge: 51:19
Was für ein herrliches Portrait! Oder nein…was für ein herrliches Hörspiel, Feature, Erzähl-, Ohr-, Stimmentheater! Denn hier fließt alles ineinander: Eine erfundene Rahmenhandlung mit dem toten bayerischen Schauspieler Bayrhammer im Himmel, die irdischen Aussagen seiner Freunde, Schauspielkollegen, seines Sohnes und die Ausschnitte aus Filmen und Hörspielen.
Besonders faszinierend finde ich…
- wie geschickt und ansatzlos das Stück zwischen Fiktion im Himmel und realen Erinnerungen auf Erden hin und her springt. Oft innerhalb eines Satzes. Nie empfindet man es als verwirrend. Im Gegenteil. Die erfundenen Szenen im Himmel unterstreichen das, was Freunde über Bayrhammer erzählen: Seinen eigenwilligen, humorigen, genießerischen Charakter.
- wie der Kunstgriff „Metabene“ den toten Bayrhammer mitten zurück ins Leben holt – als Beobachter der jeweiligen Interviewszenen.
- die lange Szene mit Bayrhammers Sohn, der zusammen mit dem Reporter in den Sachen des Vaters kruschtelt. Man hört lange nur Geräusche, Murmeln, Blättern. Man ist als Hörer mit auf erwartungsvoller Erinnerungsentdeckungstour.
- die unaufdringliche und dennoch pointierte Erzählweise und Tonlage des Sprechers. Sein unverblümtes bayerisch ohne krachledernes Klischee.
5. Das Hochwasser 2013 in der Sputnikzone
von Jan Claus (2013, MDR)
Länge 19:06
Tom:
Im Sommer 2013 hat den Osten Deutschlands ein wirklich extremes Hochwasser heimgesucht. Egal, ob in Halle, Magdeburg oder Fischbeck – überall wurden ganze Häuser zerstört. Und die Medien überschlugen sich mit Berichten. Was aber nur teilweise stattgefunden hat, waren wirkliche Einzelgeschichten. Also Berichte über konkrete Personen – sicherlich auch, um sie nicht als Opfer zu stilisieren. Bei wem ich eine solide, relativ lange und unaufgeregte Reportage am aller wenigsten erwartet hätte, ist „unser“ Jugendsender MDR Sputnik. In 20 Minuten, sonst dauern wenige Stücke mehr als 1:30, wird die Geschichte des Rockpoools erzählt – ein Klub und Proberaumzentrum für Bands aus Halle, das direkt an der Saale lag …
Was mich besonders daran fasziniert:
- dass ich mich in einem Sender komplett geirrt und ihm schon allein das Format einer Langstrecke gar nicht mehr zugetraut habe.
- Der Einsatz von O-Tönen: Die „Betroffenen“ kommen in relativ langen Ausschnitten zu Wort. Gleichzeitig sind die Aufnahmen von der Ästhetik her etwas untypisch: Da schnattert eine weitere Person ins Interview rein, kommentiert. Obwohl sie gar nicht „dran“ war.
6. Betrunken am Steuer – Selbstversuch in der Bundesanstalt für Straßenwesen
von Aeneas Rooch (2013, BR/NDR/SWR/WDR)
Länge: 5:20
Tom:
Forschung greifbar machen und erzählen, das ist schon immer Aufgabe von Wissenschaftsjournalisten gewesen. „Die Durchblicker“ gehen da noch einen Schritt weiter: Die ganze Reihe ist als Live-On-Tape-Reportagen konzipiert, d.h. die Reporter gehen in ein Labor oder Ähnliches und dürfen am Ende nur Vor-Ort-Aufnahmen montieren. Ob das bei wissenschaftlichen Themen immer ausreichende Detailtiefe bringt, darüber darf man sich sicher streiten. Besonders gut eignet sich das Format meiner Meinung nach, wenn der Reporter selbst Teil der Handlung wird und nicht nur kommentiert. Beispielsweise beim Selbstversuch, wie sich vier Gläser Vodka mit Orangensaft auf das Fahrverhalten auswirken.
Was mich besonders daran fasziniert:
- Aeneas Rooch fängt ganz leicht an zu brabbeln, an einigen Stellen redet er nicht mehr ganz so deutlich – er kommentiert den „intimen Moment“ – also nachdem er einige Gläser getrunken hatte. Dass die Hauptperson einer Geschichte der Journalist selbst ist, das gibt es im Radio noch relativ selten.
- die Kurzweiligkeit: Am Ende weiß man vielleicht auch nicht viel mehr darüber, was die Psychologen der Bundesanstalt für Straßenwesen genau machen, aber man wird sich lange daran erinnern, dass sich ein Reporter um 10 Uhr morgens ein paar Drinks genehmigt hat – für uns und das Radio.
PS: Auch faszinierend und reizvoll – soweit ich das überschauen kann, sind alle Beiträge der Durchblicker im Netz verfügbar. Auch alte Stücke von 2011!
Lust auf noch mehr Beispiele für gutes Radio?
Dann hier im Blog immer wieder mal unter „Best Practice“ nachsehen oder Sandra Müllers Tweets dazu durchstöbern. Und na klar: Selber was vorschlagen! Was hat Euch den zuletzt an den Ohren gepackt? Lasst es uns wissen.
Teil 1 der radio-machen.de-Hörempfehlungen findet ihr übrigens hier.
Über Tom: Ist beim freien Radio groß geworden. Wollte aber laut Poesie-Album (2.Klasse!) Chemiker, später Zeitungsjournalist werden. Dann kam das „Was mit Medien“-Studium.Heute macht er gerne Wissenschaftsbeiträge und twittert.
Ist Journalist in Berlin, jagt unter @lies_mich gute Reportagen – allerdings gedruckte.Zurzeit ist er Journalistenschüler an der Electronic-Media-School.
Liebt Radio-Hören und -Machen. Schreibt deshalb darüber in diesem Blog.Ist hin und weg, übers Netz Leute wie Laurence und Tom gefunden zu haben, die sich auch gern an den Ohren packen lassen und darüber reden.
Sehr schöne Sachen dabei, vielen Dank! Ein Feature, das mich neulich im DLF „Hintergrund“-Feed positiv überrascht hat: Jakarta Jam von Rilo Chmielorz (http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/01/13/dlf_20140113_1845_25b504d9.mp3). Zwar werden einige Stilmittel und Soundeffekte (insbesondere Delay) ziemlich oft verwendet; ich hatte nach dem Hören aber trotzdem das Gefühl, das beschriebene Verkehrschaos in Jakarta gut im Ohr zu haben.