Hör mal! Das ist Radio!

Wenn Radio begeistert.
5 Lieblingsstücke zum Lauschen, Lernen, Lust machen

Es gibt nichts Schöneres als Kollegen, die einen auf’m Flur vor dem Büro abfangen und sagen: „Hast Du das schon gehört?“. Und dann folgt eine Empfehlung samt Lobeshymne: Auf ein Feature, das sie gehört haben. Auf einen Beitrag, den sie grade anmoderiert haben. Auf einen Podcast, den sie sich grade runter geladen haben.

Earcatcher Postkarte einzeln (1)
Was Radio schön macht: Packendes für die Ohren

Und wie liebe ich diese Mails, Posts, Tweets nach dem Motto: „Das MUSST Du Dir anhören, Sandra. Ist geil.“ Denn ja: Es macht mir Spaß, mich immer wieder für mein Medium begeistern zu lassen. Und keine Frage: Man lernt am meisten von Beispielen, die einen selber packen.

Weil ich besonders viele solche Begeisterungstalks mit Tom Leonhardt führe, haben wir zwei uns gedacht: Warum nicht noch mehr Begeisterung verbreiten? Und mal im Blog ein paar Hörtipps geben? Für Anfänger, alte Hasen, Radiofreaks. Hier sind sie:

  1. „Ein blutiges Laken“ von Magdalena Bienert (2009, Fritz RBB)
  2. „The Broadcast Clock“ von Roman Mars und Julia Barton (2013, 99 Percent Invisible)
  3. Zeitzeichen zum Geburtstag des Kunstfälschers Kujau von Kerstin Hilt (2013, WDR3)
  4. „She sees your every move“ von Jonathan Mitchell (2010, Studio 360)
  5. Interview mit Heiner Geißler (2011, DLF)


1. „Ein blutiges Laken“ von Magdalena Bienert (2009, Fritz RBB)

Sandra:

Axel Springer Preis für junge Journalisten Logo
„Das blutige Laken“ ist 2010 ausgezeichnet worden.

Ein Stück, das mich nicht los lässt. Denn die Art, wie hier Erzähltes mit Musik und Sounds verwoben wird, ist grandios kunstvoll. Es sind viereinhalb Minuten reine Collage. Ohne Reporterin. Und doch wird da eine ganz kompliziert bewegende Sache erklärt: Warum ein Mädchen sich sein Jungfernhäutchen hat wiederherstellen lassen.

Besonders faszinierend finde ich…

  • dass aussagestarke O-Töne jeweils mehrfach eingesetzt werden.
  • wie O-Töne mit Soundeffekten verfremdet werden. Zum Teil hat man dadurch den Eindruck, Gedanken zu hören.
  • dass die Musik hier immer klar macht, vor welchem (kulturellen) Hintergrund die Geschichte spielt.
  • dass die O-Töne ohne Reportertext collagiert sind. Das Stück wird dadurch dicht, drängend, packend.

PS: Ich liebe dieses Stück, obwohl ich es auch schon mehrfach kritisiert habe. Im Original haben die Kollegen nämlich verschwiegen, dass die Töne des Mädchens nachvertont sind. Es spricht also nicht das Mädchen selbst, sondern eine Schauspielerin. An der grandiosen Machart ändert das aber nichts.


2. „The Broadcast Clock“ von Roman Mars und Julia Barton (2013, 99 Percent Invisible)

Tom:

Eigentlich ist es fast egal, welche Episode man aus Romans Show „99 Percent Invisible“ empfiehlt. In jeder Folge wird eine Geschichte aus der „Design“-Welt erzählt. Mal sind es Häuser, mal Comics und Superhelden oder eben die Stundenuhr im Radio. In „The Broadcast Clock“ erzählen Roman Mars und Julia Barton, welche Rolle „Zeit“ im Radio spielt, wie das NPR-Flagschiff All Things Considered so gut wie komplett durch einen Zeitplan gesteuert ist und warum wir bei Podcasts nicht mehr so sehr auf die Dauer achten müssen.

Besonders faszinierend finde ich…

  • Romans Ansprechhaltung. Die ganze Zeit über spricht Roman so informell und persönlich. Und genau mit dieser entspannten Erzählhaltung schafft er es bei mir immer, mich in seinen Bann zu ziehen.
  • Mehrere Reporter erzählen die Geschichte. Mal allein, mal in einem Quasi-Dialog.
  • Musik! In jeder Folge verwendet Roman immer die genau „passende“ Musik, um den Inhalt zu unterstützen und eine gewisse Grundstimmung aufzubauen.


3. Zeitzeichen zum Geburtstag des Kunstfälschers Kujau von Kerstin Hilt (2013, WDR3/5)

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Seit über vierzig Jahren täglich zu hören: Das WDR-Zeitzeichen

Sandra:

Lust auf ein perfekt radiophones Schmunzelstück? Hier ist es: Ein WDR-Zeitzeichen über das ungewöhnliche Lebens des Kunstfälschers Kujau. Darin steckt alles, was Radio kann: Sprachwitz, Sprechkunst, Musik und O-Töne stimmig montiert. Selten wird Ironie so gut hörbar.

Besonders faszinierend finde ich…

  • dass Interviewpassagen, Reportertext und Filmszenen sehr kleinteilig miteinander gemischt sind. Das gibt dem Stück unglaublich viel Drive.
  • dass Die O-Töne oft ohne Erklärung für sich stehen dürfen. Motto: Erst die Aussage, dann die Erklärung dazu.
  • die temporeiche Sprache. Mit kurzen Sätzen. Aber irre viel Sprachwitz.

Tom:

Besonders faszinierend finde ich…

  • den lockeren Umgang mit O-Tönen: Hier wird nicht jeder Sprecher „typisch deutsch korrekt“ vorgestellt. Sie greifen stattdessen flüssig ineinander über und erzählen verschiedene Aspekte einer Geschichte.
  • den skurrilen Ton der Erzählung: Irgendwie wirkt alles in der Geschichte ironisch, von der Musik bis hin zur Sprecherin. Dadurch erhält das Stückchen seine ganz eigene Aura.


4. „She sees your every move“ von Jonathan Mitchell (2010, Studio 360, WNYC)

Sandra:

Ein Stück, das mich anfasst. Buchstäblich. Ich fühle es beim Hören. Ich bin mit der Fotografin, die da vorgestellt wird, unterwegs. Und ich halte die Luft an dabei. Denn die Frau fotografiert nachts heimlich Leute in ihren Häusern! Seine Wirkung gewinnt das Stück vor allem durch den absolut gekonnten Einsatz von Musik, Sound und Geräuschen . Und wieder geht das alles ohne Reporterstimme.

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„She sees your every move“ lief bei Studio 360, der Kultursendung von WYNC, einem nicht-kommerziellen US Radio.

Szenerie und Emotionen werden allein durch die Erzählerin und die perfekte Re-Inszenierung ihrer Schilderungen ausgelöst. Man hat das Gefühl, eine Reportage zu hören, obwohl es keine ist. Ich gebe zu: Ich hätte versucht, die Fotografin auf einer ihrer heimlichen Foto-Touren zu begleiten. Das Stück beweist aber, dass man den Hörer auch anders miterleben lassen kann.

Besonders faszinierend finde ich…

  • Musik im Radio einzusetzen wie Filmmusik, als Emotionsverstärker.
  • Musik gezielt als Kapiteltrenner zu nutzen. Die Musik markiert Szenen, Übergänge, neue Abschnitte.
  • Geräusche einzusetzen, um Erzähltes zu illustrieren. Wichtig ist für mich dabei: Aus der Art der Inszenierung wird klar, dass es eine Re-Inszenierung ist. Es tut nicht so als wäre es echte Reportage. Aber es versetzt den Hörer ins Miterleben. (Das Zirpen macht Nachtstimmung. Das leise Gemurmel klingt nach Vernissage,….)
  • Sich auf einen einzigen O-Ton-Geber zu verlassen, wenn er so gut ist wie hier (aber eben nur dann).

PS: Es gibt auch eine wunderbare Besprechung und Analyse des Stücks bei howsound.org. Rob Rosenthal lässt sich darin vom Autor Jonathan Mitchell erklären, wie genau er das Stück gemacht hat.


5. Interview mit Heiner Geißler (2. August 2011, DLF)

Sandra:

Es gibt Radiostücke, die gehen ganz unfreiwillig in die Radiogeschichte ein. Dieses DLF-Interview mit Heiner Geißler zum Beispiel. Denn wenn sich Moderator und Interviewpartner in die Wolle kriegen – und zwar live auf Sendung! – dann ist das schon ein echter Hinhörer. Aber warum eigentlich? Weil es uns als Hörer staunen macht? Weil das Interview eine völlig überraschende Wende nimmt? Weil man live dabei ist, wenn ein Interview auf die falsche Spur abbiegt? Vermutlich alles zusammen.

Besonders faszinierend finde ich

  • zu hören, wie schnell ein Interview aus dem Ruder läuft, wenn man zu früh zuspitzt.
  • dass das Interview bei allen „Fehlern“ einen unglaublichen Hörsog hat.

PS: Im Versuch, aus diesem eigenwilligen Interview zu lernen, habe ich das ganze Gespräch auch schon mal abschnittsweise analysiert.

Tom:

Als das Interview mit Geißler live über den Sender lief, war ich schon fast auf dem Weg zu meinem Praktikum. Doch schon die ersten Fragen und Antworten haben gezeigt, dass da etwas ganz „Großes“ passiert: Eine wirkliche Konfrontation im Radio. Was ich bis dahin und seitdem selten gehört habe, ist ein „sprachloser“ Moderator. Ungewollt unterhaltsam und irgendwie auch seltsam ungelenk. Ein spannendes Stück Radio.

Besonders faszinierend finde ich:

  • Wie patzig und trotzdem rhetorisch gelungen Heiner Geißler den Moderatoren abblitzen lässt. Beim ersten Hören dachte ich sogar, Geißler würde nur angreifen. Dabei ist es eigentlich genau umgekehrt.

Lust auf noch mehr Beispiele für gutes Radio?

Dann hier im Blog immer wieder mal unter „Best Practice“ nachsehen. Oder auf howsound.org stöbern, dem wunderbaren Podcast-Blog von Rob Rosenthal. Dort geht’s regelmäßig um das „Making of“ guter Radiostücke. Und na klar: Selber was vorschlagen! Was hat Euch den zuletzt an den Ohren gepackt? Lasst es uns wissen.

Über Tom: Ist beim freien Radio groß geworden. Wollte aber laut Poesie-Album (2.Klasse!) Chemiker, später Zeitungsjournalist werden. Dann kam das „Was mit Medien“-Studium. Heute macht er gerne Wissenschaftsbeiträge und twittert.
Über Sandra: Liebt Radio-Hören und -Machen. Schreibt deshalb darüber in diesem Blog. Ist hin und weg, übers Netz einen wie Tom gefunden zu haben, der mit ebenso viel Leidenschaft übers Radio schreibt, wie sie selbst. Freut sich über jede Hörempfehlung.

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