Fragen zu „Jeder Sechste ein Flüchtling“. Und Antworten.
Seit Katharina Thoms und ich die Webdoku „Jeder Sechste ein Flüchtling“ machen, werden wir viel gefragt: Warum macht Ihr das? Wie macht Ihr das? Und seid Ihr nicht eigentlich Radiomacherinnen?
Antwort: Ja. Sind wir. Aber eben nicht nur.
Beide waren wir schon lange begeistert vom „Scrollytelling“ – dieser Erzählform im Internet also, die Filme, Bilder, Texte und Töne verbindet und durch die der Nutzer selbstbestimmt durchscrollen kann. Nur fehlte uns oft der Sound.
Wir wollten es deshalb radiophon angehen, wollten mehr Audio und Sound ins Spiel bringen. Und wir sind glücklich, dass man das offenbar merkt.
Jedenfalls hat Stefan Westphal eine Lobhudelei bei radioszene.de verfasst, die uns freudige Schamesröte beschert hat. Und auch er hat viele Fragen gestellt. Fragen, die wir ausnahmsweise schriftlich beantwortet haben. Voilá.
Einige Seiten im Pageflow enthalten eine Mischung aus Diashow und Bewegtbild. Warum ist die Entscheidung für kurze Videosequenzen dazwischen gefallen? War es kompositorisches Denken oder schlicht und einfach, dass das Material passte?
Die Video-Einsprengsel sind als Stilmittel schon gewollt. Wir empfinden den sparsamen Einsatz von Bewegtbild da gut, wo er einen gewissen magischen Effekt auslöst. Eben weil sich überraschend was bewegt, wo man es nicht erwartet.
Idealerweise wählen wir deshalb oft Videosequenzen, die fotografischen Charakter haben, also viel Stillstand mit vereinzelter, minimalistischer Bewegung: Ein fahrendes Auto in der Landschaft; ein einzelner Flüchtling beim Gang übers Gelände; den telefonierenden Polizisten, der aus dem Off von anderem erzählt.
Wichtig ist uns immer: Das Bewegtbild soll NICHT vom Audio ablenken. Das halten wir für eine große Gefahr. Uns ist wichtig die typische Intimität und emotionale Kraft der Radio-O-Töne auszuspielen.
Ausnahmen sind einzig Interviews, in denen wir eine zusätzliche Emotionalität und Aussage in der Mimik erwarten – etwas das uns vielleicht beim reinen Ton verborgen bliebe. Diese Ausnahmen überlegen wir uns gut, weil man dafür ein Stück Intimität und Vertrautheit preis gibt (siehe letzte Frage).
Was ist der Grund für den Einsatz der kurzen Musiksequenzen? (Stimmungsverstärkung, vermute ich?)
Klar. Im Grunde ist das eine Art Filmmusik. Und eine Webdoku ohne Musik scheint uns unvorstellbar. (Wie wir übrigens auch finden, dass in deutschen Radio-Features zu wenig mit Musik und Sound gespielt wird).
Uns geht es aber gar nicht so sehr um reine Stimmungsverstärkung. Viele unserer O-Töne sind, glaube ich, sowieso schon sehr stimmungsstark. Aber wir haben den Eindruck, dass unser Musikeinsatz eine gewisse Nachdenklichkeit beim „Zuhörschauen“ ermöglicht. Vom Effekt her vielleicht so ein wenig wie beim Nachspann im Kino. Der Film/ das Gesagte ist schon weg, aber die Musik hält einen noch da, um sich Gedanken dazu zu machen. Diese Wirkung jedenfalls erhoffen wir uns.
Wo kommt die Musik her?
Das ist Musik von verschiedenen Interpreten. Das sind Produktionen, die es schon gab. Die sind also nicht extra für uns gemacht. Wir haben uns für diese Motive entschieden weil wir Musik gesucht haben, die Ruhe und Nachdenklichkeit ausstrahlt. Es sollte Musik sein, die man noch nicht von anderswo kennt.
Habt ihr euch auf das Sammeln des Originalmaterials anders vorbereitet als bei klassischen Hörfunk- oder Fernseharbeiten?
Nicht wirklich. Im Vordergrund steht: Die Nähe zu den Protagonistinnenen und Gesprächspartnern. Das ist nicht anders als bei einem Gespräch für ein Feature. Da gehen jeweils Telefonate voraus und dann Gespräche zwischen uns beiden als Macherinnen: Was wollen wir? Worum geht’s gerade?
Was wir aber lernen mussten, ist das mutigere Denken in starken ereignislosen Momentaufnahmen und „Atmo-Bildern“. Will heißen: Beim Fotografieren darf man für so eine Webdoku nicht immer nur die Action-Szenen einfangen. Man muss bewusst auch die kleinen Details am Rande, die symbolischen Randaspekte mitnehmen. Das sind oft die besseren Bilder, um besonderen Audios zu einer innigen Wirkung zu verhelfen.
Beispiele:
Wie ist der Aufwand dieser crossmedialen Form im Vergleich zum klassischen Hörfunkfeature oder der klassischen TV Doku?
(Achtung: wir nennen das ungern „crossmedial“. Für uns wäre „crossmedial“ eher das Verbreiten derselben Geschichte über verschiedene Wege: Als Radiobeitrag, als TV-Story, als geschriebene Reportage mit gegenseitigen Anschlüssen. Ganz getrennt auch gern: „trimedial“. Wenn alles drei in so einer Webdoku zusammenspielt, nennen wir das eher multimedial. Vielleicht sind wir da zu pingelig. Aber wir haben eben auch unter Kollegen oft das Problem, zu erklären, was wir eigentlich machen und schuld sind nicht selten die unklaren Begriffe. Zurück zur Frage:)
Wir sammeln ja selber erst Erfahrungen. Aber es zeigt sich: Der Arbeitsaufwand ist ähnlich wie für einen Dokumentarfilm. Und das haben wir auch schon geahnt. Wir haben ja beide vorher schon Erfahrungen mit Audio-Slide-Shows gesammelt. Und da gibt es immer das große Missverständnis: „Da ist ja kein Bewegtbild dabei, „nur“ Fotos. Das ist also „Film für Arme“.“ Falsch.
Und im Gegenteil: Die Momentaufnahmen und ausdrucksstarken Fotos, die man braucht, um starken Audios im Netz zur vollen Wirkung zu verhelfen, brauchen Zeit. Beim Machen und bei der Auswahl. Denn die Webdoku, die wir machen wollen, lebt von der Reduktion, vom Minimalismus, von DEM besten Ton, mit DEM besten Bild (was nicht heißt, das uns das immer gelingt! Leider.).
Nicht selten bauen wir eine „Seite“ dafür drei-, viermal. Denn gerade WEIL das alles so minimalistisch ist, muss man den richtigen Rhythmus treffen und sehr genau nachspüren: Was kann noch weg? Was ist die Essenz? Was bringt auf den Punkt, was ist?
Was war das Argument, mit dem ihr den SWR davon überzeugt habt, das Thema in dieser Form aufzuarbeiten?
Es waren mehrere Argumente. Zuvorderst natürlich das Thema: Wie leben Flüchtlinge auf der Schwäbischen Alb? Das Thema rückte im Oktober 2014 ja urplötzlich sehr massiv ins Interesse der Öffentlichkeit. Und genau deshalb wurde die neue Erstaufnahmestelle in Meßstetten in aller Eile eingerichtet.
Wir haben dabei von Anfang an konsequent für einen speziellen Blickwinkel geworben. Denn für uns geht es ja um die Frage: Wie geht so eine Kleinstadt mit 1.000 Flüchtlingen in der Nachbarschaft um? Was bedeutet das für die Einheimischen? Was macht das mit so einer Kleinstadt auf dem Land? Das ist beim SWR sofort auf großes Interesse gestoßen.
Dass wir das dann noch dazu als Webdoku machen wollten – mit pageflow – , kam gerade zur rechten Zeit. Der SWR hat das Tool im Herbst 2014 senderweit verfügbar gemacht. Und wir haben von Anfang argumentiert, dass wir diese Form für dieses Thema für ideal halten. Einfach, weil die Dokumentation einer solchen Stimmungslage und ihrer Veränderungen eine ruhige Form braucht, die es dem Zuschauer erlaubt, einzutauchen und selbst nachzuspüren. Interaktives Scrollytelling ist da einfach stark. Und das Erzählen mit Tönen und ruhigen Bildern auch.
Ich habe in meinem Buch unter anderem die These vertreten, dass es mit „kleiner Technik“ (also, einem kleinen Audio Aufnahmegerät) sehr viel leichter ist, authentisches Originalmaterial zu bekommen, als wenn man die typische TV Technik (Kamera, vermutlich auch noch Ton und Licht) dabei hat. Die O-Töne in eurem Stück wirken extrem authentisch (und das macht sie so gut). Hat das auch deiner Meinung nach etwas damit zu tun, sich den Protagonisten auf diesem technisch unaufwändigen Niveau näher kommen zu können? Oder steckt noch mehr dahinter?
Unbedingt! Es hat damit zu tun. Wir arbeiten bei den Gesprächen eben erst mal OHNE Kamera. Wir führen Interviews wie Radiomacher: nah, persönlich, gesprächig, „unter uns“ und unabgelenkt. Die Bilder kommen später dazu und liefern eine andere Dimension oder haben oft auch „nur“ die Funktion, das unruhige Auge eines Internet-Users einzufangen, damit er sich auf die O-Töne einlassen kann.
Natürlich haben wir uns schon auch bei der Auswahl der ProtagonistInnen Mühe gegeben. Und wir haben nur Leute ausgewählt, bei denen wir von Anfang an das Gefühl hatten, einen gesprächigen Draht zu haben. Außerdem empfinden wir es als großes Glück, über einen so langen Zeitraum immer wieder mit denselben Menschen zu sprechen. Wir fühlen da eine Vertrautheit und Aufgeschlossenheit, die uns im oft schnelllebigen Radio-Alltag verborgen bleibt. Das merkt man dann auch an den O-Tönen.
Katharina Thoms ist Medienmacherin mit Auge, Ohr, Herz. Drehte für ihren ersten Dokumentarfilm ein Jahr lang durch. Liebt die Berlinale genauso wie die Radiotage in Tutzing. Derzeit Webdoku– und Radio-Reporterin beim SWR in Tübingen. Auf Twitter als @mediathoms.
Sandra Müller liebt Radio-Hören und -Machen. Schreibt deshalb darüber in diesem Blog. Findet, auch anderswo sollte mehr für die Ohren produziert werden. Macht deshalb auch gern Radio mit Bild und eben Webdokus. Sucht Gleichgesinnte auf allen Kanälen, von Twitter bis facebook.
Stefan Westphal entwickelt für Industrieunternehmen digitale Kommunikationsstrategien. Bis 2012 war er Moderator und Autor bei NDR 2. Stefan Westphal bloggt. 2014 erschien sein Buch „Wie das Radio im Netz überleben kann“.